„Verf*** Sch***!“ Fluchend auf dem Weg zur Erleuchtung

In diesem Jahr bin ich selbst überrascht über eines meiner Jahresanfangs-Ziele: „mehr fluchen“. Es ist aus einer spontanen Eingebung heraus entstanden und zum Glück nicht mein einziges Vorhaben. Aber ein wichtiges. Denn ich gehöre zu den Menschen, die genau das öfters einmal tun sollten: hemmungslos schimpfen und fluchen.

Widerspricht das allem, was du von einem spirituellen Weg erwartest?

Verstehe ich gut. „Den Sanftmütigen gehört das Himmelreich“, sagt Jesus. Deshalb versuchen viele Christen angestrengt, ihrem Meister in puncto Sanftmütigkeit in nichts nachzustehen. Aber auch Menschen, die auf anderen Wegen spirituell suchend sind, geben sich oft sanfter, gleichmütiger und geduldiger, als sie eigentlich sind. Weil es einem selbst bestätigt, dass man sich spirituell bereits entwickelt ist.
Aber: Wo viel Licht ist, ist (oft) auch viel Schatten. Spirituelle Menschen tragen hohe Ideale in sich. Weil sie so gerne gelassen und geduldig und liebevoll mit allem und jedem sein wollen, werden „unspirituelle“ Wut- und Hassgefühle einfach vergraben, überdeckt oder verleugnet. Solche Menschen wirken dann seltsam unauthentisch, haben etwas Verwirrendes an sich.

Vor dem Meditieren: Sandsack!

Mag sein, dass ungehobelte Worte einen Mangel an spirituellem Fortschritt bedeuten. Aber selbst wenn: so what?! Viel wichtiger ist, auf der spirituellen Reise unsere Masken fallen zu lassen. Dass wir uns getrauen, uns selbst und anderen nichts mehr vorzuspielen: Das ist echter spiritueller Fortschritt! Wir brauchen uns nicht vormachen, dass manche Situationen „schon okay so“ sind, obwohl uns eine innere Stimme sagen möchte, dass da gerade etwas verdammt noch mal nicht okay ist!

Eine Therapeutin riet mir: „Geh vor dem Meditieren an den Sandsack! Wut kann man nicht wegmeditieren.“ Das trifft den Punkt. Gläubige und spirituell suchende Menschen sind besonders gefährdet, zu „Aufgestaute-Wut-Klopsen“ zu werden. Da sie so besessen sind vom Wunsch, nicht wütend zu sein, kommen sie nicht ehrlich in Kontakt mit ihrer eigenen Wut.

Ist Fluchen das neue Beten? Nein, aber ich empfinde es als Vorstufe zum Beten und Meditieren. Ähnlich den Rachepsalmen im Alten Testament. Es ist ehrlich. Und deshalb manchmal das Beste, was ich tun kann. Davon abgesehen macht mich Wut nicht nur auf meine Grenzen aufmerksam. Sie gibt mir, wenn ich sie freilasse, auch Energie, und kann mich so aus lähmender Lethargie und Resignation herausholen!

Allerdings möchte ich an dieser Stelle, angeregt durch einen Kommentar unten, noch etwas differenzieren: Mit „Fluchen“ meine ich derbes, ungehobeltes und eben nicht gefiltertes Schimpfen, das – auch mit Kraftausdrücken – Dampf ablässt. Etwas ganz anderes ist das „Fluchen“ im religiösen Sinn, also auch das VERfluchen, das jemand anderem Unheil wünscht oder jemanden „zum Teufel“ schickt. Dies wäre dann die Umkehrvariante zum „segnen“ – und beides schafft Realitäten, die wir uns im Falle des Verfluchens sicherlich nicht wirklich wünschen.

Dennoch: Es ist höchste Zeit, unser Ideal der „Wohlerzogenheit“ aufzugeben und ordentlich schimpfen zu lernen. Gerade dann, wenn wir auf einem spirituellen Weg sind. Um nicht in einer vergeistigt-abgehobenen Pseudo-Spiritualität zu landen.

Mit C.G. Jung stelle ich die Frage: Möchtest du lieber gut sein – oder ganz? Keine leichte Frage für religiös geprägte Menschen. Ich habe mich für „ganz“ entschieden. Im Übrigen war auch Jesus bei näherem Hinsehen mehr „ganz“ als „gut“ (im Sinne von brav), weil er durchaus sehr wütend sein konnte und Menschen auch mal eine Latte vor den Kopf knallte. Da mussten nicht nur die Pharisäer schlucken („Ihr Otterngezücht! Ihr Schlangenbrut!“), sondern auch die Jünger („Satan, weiche von mir!“).

Wie sieht das Ganze praktisch aus?

Ich laufe jetzt öfters mal fluchend durchs Haus, wenn mir danach ist. Meine Kinder haben das schon verwundert wahrgenommen, dass ihre Mutter manchmal Dinge sagt, die man „eigentlich nicht sagt“. Ein erster Lerneffekt ist schon eingetreten: Ich kann es besser stehenlassen, wenn auch meinen Kindern zum Schimpfen und Fluchen zumute ist. Sie wiederum freuen sich, wenn sie mich auch mal zurechtweisen können. Gerechtigkeit für alle.

Grenzen gibt es natürlich auch. Ich schimpfe, aber ich beschimpfe nicht. Jedenfalls nicht laut. Für das leise Beschimpfen gibt es meine „Morgenseiten“. Damit meine ich eine Kreativitätstechnik, die darin besteht, jeden Morgen erstmal drei Din-A-4-Seiten vollzuschreiben mit dem, was mir im Moment durch den Kopf rauscht. Ohne Zensur. Alles kommt aufs Blatt, wird danach nicht mehr gelesen sondern direkt weggeheftet. Danach geht‘s dann meist wieder und ich kann bewusst wieder in eine wohlwollendere oder sogar segnende Haltung einsteigen.

„Jesus Christus für den Lahmarsch an der Kasse.“

Ich bin mit dem sogenannten Herzensgebet unterwegs. Das heißt, ich versuche in jeder freien Sekunde meines Lebens, in der ich nicht mental mit etwas beschäftigt bin, innerlich den Namen „Jesus Christus“ zu sprechen (dazu an anderer Stelle mehr). Man kann das Gebet auch für andere sprechen und sie auf diese Weise segnen: „Jesus Christus für xy.“
Aber auch hier ist es wichtig, negative Gefühle nicht einfach wegmeditieren zu wollen. Deshalb rät die Mystikerin Sabine Bobert, das Jesusgebet in kritischen Momenten entsprechend anzupassen. Das bedeutet dann zum Beispiel: „Jesus Christus für diesen Lahmarsch an der Kasse.“ Wunderbar! Weil es beides vereint: die Ehrlichkeit mit meinen Gefühlen UND die klare Entscheidung, in einer betenden und segnenden Haltung zu bleiben.

Viel Spaß beim fluchen und schimpfen!

picture by Ajay Lalu from Pixabay

7 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Dear Sister,
    Ja..
    Vor dem Meditieren an den Sandsack. Sehr gut und hilfreich.
    Aber man beim Schimpfen und Fluchen würde ich etwas differenzieren.
    Schimpfen im Sinne von Verbal-Diaroe zum Enschlacken und Entleeren verklemmt er seelischer Müllanteile. Alles OK
    ABER wenn Segen eine realitätsschaffende, einwirkende Kraft ist, was ist dann Fluchen wenn nicht dasselbe in DARK.
    Ich bin da sehr aufmerksam und empfindlich… Schreien, trampeln usw alles sehr hilfreich.
    Aber FLUCHEN… da lass ich die Finger / Zunge von.
    Denn was dabei raus kommt, da will ich nix von in meinem Leben oder im Leben anderer haben.

    Antworten
    • yvonneortmann
      17. Januar 2021 16:50

      Dear Brother!
      Danke für den Hinweis. Ich glaube, tatsächlich müsste man „Fluchen“ etwas spezifizieren: Für mich im Alltagsgebrauch ist „Fluchen“ ein „etwas derberes Schimpfen“- also mehr als „Mann, ist das aber blöd!“ Fluchen im religiösen Sinn, also auch VERfluchen, ist wirklich nochmal eine andere Nummer und schafft Realitäten, die ich ebenfalls nicht schaffen möchte. Interessant finde ich aber schon, dass in den Psalmen selbst diese Grenze nicht gezogen wird und Feinde hemmungslos verflucht werden… Solche Verse habe ich im Gottesdienst auch schonmal rausgekürzt, bin mir aber gar nicht sicher, ob das wirklich gut ist.

      Antworten
      • Es geht mir genau um diese Unterscheidung, die aber sprachlich bei uns nicht genau gezogen wird. Vielleicht kannst du das in deinem Artikel präzisieren…
        Derbe direkt und emotional auch mal durch die Decke, aber die Tiefendimension nicht aus den Augen verlieren

    • yvonneortmann
      18. Januar 2021 11:52

      Danke, Frank, habe ich im Artikel präzisiert. Wie stehst du zu den in den Psalmen getätigten Verwünschungen? Ist das „in Ordnung“? Ist das gottesdiensttauglich?

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  • […] „Verf*** Sch***!“ Fluchend auf dem Weg zur Erleuchtung […]

    Antworten
  • Liebe Yvonne,
    mehr ganz als gut zu sein – finde ich eine erstrebenswerte Wachstumsrichtung. Es gibt ja auch den Begriff „spiritueller Bypass“ , der genau auf diese Abkürzung hinweist : Meditieren, aber unter Wegdrücken oder Übergehen der Schattenemotionen. Dann wird es schräg. Erleuchtete Arschl***. Dann lieber in deinem Sinne fluchen und sich auch diese Emotionen in mir zulassen.

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