Naturmystik: Wenn Gott in einer Raupe vorbeikriecht

Als Kind und Jugendliche fühlte ich mich dem Göttlichen durch die Schöpfung nah und verbunden: Ich lag in Blumenwiesen und bestaunte Sonnenuntergänge, saß stundenlang in meinem Lieblingsbaum „Otti“ und ließ mich von seiner rauen Rinde trösten. Als Erwachsene verlor ich diesen Zugang zeitweise: Ich wohnte im städtischen Kontext, nahm mir keine Zeit für die Natur und beschäftigte mich lieber mit Fragen und Problemen.

In den vergangenen Jahren habe ich wieder einen starken Zugang zur Natur gefunden. Inspiriert durch eine Freundin habe ich irgendwann einfach meinen Pilgerrucksack gepackt und bin losmarschiert. Der Jakobsweg führte praktisch an meiner Haustür vorbei, ich musste nur loslaufen. Vier Tage war ich unterwegs und seitdem jedes Jahr wieder. Das Gehen und die Natur hatten eine krasse Wirkung auf mich. Das innere Plappern wurde mit der Zeit weniger, ich staunte stattdessen immer häufiger: über glänzende Käfer, wackelnde Grashalme, sich brechende Lichtstrahlen und manches mehr, was mir auf meinem Weg begegnete. Glücksgefühle breiteten sich aus und wurden unterbrochen von negativen Gefühlen, die aus meinem Inneren auftauchten und bearbeitet werden wollten. Und dann wieder: Glücksgefühle. Schon nach 2,5 Tagen waren mir sogar Dörfer zu viel Zivilisation und Reizüberflutung.

Natur lehrt uns wahrnehmen; Wahrnehmen ermöglicht Kontemplation

Ein paar Jahre später las ich „Kontemplative Exerzitien“ von Franz Jalics. Franz Jalics war ungarischer Offiziersanwärter und hielt sich Ende des zweiten Weltkriegs wegen einer Panzerausbildung in Deutschland auf. Mit Kriegsende war er plötzlich Flüchtling und lebte in einem Flüchtlingslager, wo er darauf wartete, zurückkehren oder auswandern zu können. Im Flüchtlingslager gab es nichts zu tun, also begann er, stundenlange Spaziergänge in der Umgebung zu machen.

Er schreibt: „Ich ging jeden Tag drei, vier oder sogar fünf Stunden spazieren. Die Natur tat mir sehr gut. Ich fühlte mich durch sie gereinigt. Ich fand viel Stille in ihr und kam immer erholt zurück. Ich schaute oft zum Himmel auf und betete ganz spontan. In der Natur, auf den Wiesen und in den Wäldern, im Licht der Sterne und in der Kraft der Sonne spürte ich die Allgegenwart Jesu Christi, in dem alles geschaffen ist. Ich war gerne in der Natur, merkte aber nicht, wie sehr sie mich innerlich umwandelte. Nach diesem Jahr, als ich im März 1946 nach Ungarn zurückfahren konnte, war ein kontemplatives Fundament in mir gewachsen. Ich spürte es als innere Gelassenheit und Klarheit. In dieser Zeit wurde meine Priesterberufung allmählich klar. Erst später, im Nachhinein, wusste ich, dass die Natur und, wie ich später in der Bibel entdeckte, besonders die Wüste Orte der Begegnung mit Gott sind.“

Für Jalics ist die Natur „die große Lehrmeisterin der Kontemplation“. Kontemplation bedeutet „Gott schauen“, denn „was im ewigen Leben unsere einzige Beschäftigung sein wird, fängt schon auf Erden an.“ Um dahin zu kommen, müssen wie zuerst das Wahrnehmen lernen, denn im Alltag sind wir zerstreut und abgelenkt. Ein wichtiger Wegweiser dahin ist die Natur.

Im Urlaub geht Kontemplation ziemlich easy

Die aktuelle Urlaubszeit eignet sich wunderbar, um diesen Weg zu gehen. Statt zu lesen oder nachzudenken, können wir öfters einmal alle Viere von uns strecken und einfach nur wahrnehmen. Da wir oft nur einen Blick für das Große haben, geht es darum, sich etwas Konkretes auszusuchen und dabei zu verweilen: zum Beispiel eine Blume, die wir länger anschauen und auf uns wirken lassen, mit all den faszinierenden Einzelheiten, die zu ihr gehören. Eine sich ständig verändernde Wolke. Eine Raupe auf ihrem Weg an einen Ort, den nur sie kennt. Mit kindlicher Neugier und unendlicher Zeit. Wenn Gedanken dazu kommen, dies kurz registrieren und wieder zur Wahrnehmung zurückkommen. Wir können auch unsere anderen Sinne einsetzen und mit geschlossenen Augen einem Vogel zuhören. Oder ein wenig Erde in die Finger nehmen und spüren.

Vielleicht wird daraus sogar eine neue Gewohnheit, die uns auch in der Zeit nach dem Urlaub noch trägt: Jeden Morgen spazieren gehen und dabei eine Sache entdecken, bei der wir bewusst verweilen. Jeden Mittag zehn Minuten in den Himmel schauen. Jeden Abend vor dem Schlafengehen die kühle Nachtluft schnuppern. „Die kontemplative Haltung leitet uns zu einer erstaunlichen Gelassenheit. Alles, was da ist, darf da sein. Wir brauchen nichts zu ändern. Wir lassen alles so stehen, wie es ist.“

Welche Erfahrungen habt ihr mit der Natur als „Lehrmeisterin der Kontemplation“ gemacht? Welche Sehnsucht weckt die Natur in euch?

Hier findet ihr das Buch „Kontemplative Exerzitien“ von Franz Jalics – ein echter Wälzer, aber super geeignet, wenn man Exerzitien zu Hause / im Alltag einbauen will

Bild: Free-Photos from Pixabay

3 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Sandra Hauser
    16. Juli 2020 19:52

    Liebe Yvonne, noch etwas, was uns verbindet 🙂 Bei mir ganz ähnlich, als Kind und Jugendliche war ich ständig draußen und habe mich darin so glücklich und inspiriert gefühlt. Wollte lange sogar Wolfsforscherin werden, um immer draußen in der Wildnis arbeiten zu können 😆 Dann habe ich mich eine Weile mehr den Städten und dem kulturellen Leben zugewandt, aber es zog mich immer wieder raus. Durch Anne-Maria Appelt und andere habe ich nun vor einiger Zeit einen neuen Zugang zur Natur gefunden, dieser gezielt Fragen zu stellen und wirklich durch alles zu mir sprechen zu lassen.

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  • Ich weiß nicht, ob Links erlaubt sind, aber ich war so ergriffen von den Beschreibungen der Indianer, dass ich eine Zusammenstellung gemacht habe: http://www.kleine-spirituelle-seite.de/files/template/pdf/indianerweisheiten.pdf

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