Die dunkle Nacht der Seele

Wie schnell geht innere Transformation? Meine Timelines werden zur Zeit überschwemmt mit Erfolgscoaches und Spiritualitäts-Gurus, die mir den Turbo-Weg zur Erleuchtung, zum Erfolg, zur inneren Freiheit versprechen. Ich selbst mag all diese Versprechen nicht mehr hören – die Versprechen, dass sich auf irgend einem spirituellen (Übungs-)Weg quasi per Knopfdruck Heilung, Glück und Freude einstellen.

Ja, es gibt sie: Einschneidende Gotteserfahrungen, die im Leben eine Marke setzen. Die Dinge lösen, freisetzen, etwas Neues in Gang setzen. Ich lese gerne Geschichten von Menschen, die etwas erlebt haben, was ihrem Leben eine komplett neue Richtung gegeben hat. Aber ich weiß auch: der Regelfall ist das nicht. Die meisten erleben Transformation so wie ich: in unzähligen kleinen, manchmal mühsamen Schritten, die langsam mein Denken, Fühlen und Handeln verändern. Und dazu gehören auch Phasen der Dunkelheit.

Ich liebe die Zeiten, in denen ich das Leben leicht, liebenswert, einfach wunderbar empfinde. Ich fühle mich dann eins mit mir, mit den Menschen, mit Gott. Alles ist stimmig. Und ich wünsche mir, dass das ganz einfach so bleibt. Doch dann, ich weiß nicht wie und wodurch, ziehen plötzlich Wolken auf. Die Leichtigkeit ist vorbei, statt dessen trübe Gedanken und wankelmütige Gefühle. Alte Ängste steigen auf, die längst überwunden schienen.

Wie von Gott abgeschnitten

Heute weiß ich: Auf einem ehrlichen spirituellen Weg, der mehr ist als „Positives Denken“ und das Setzen auf nette Affirmationen, gehört das dazu. Samt dem zeitweisen Empfinden, von Gott getrennt zu sein, irgendwie abgeschnitten, nicht mehr umsorgt und geliebt. Manche modernen Konzepte verhindern, dass wir den Blick in die Tiefe wagen, und konzentrieren sich allein auf das Schöne. Die Wahrheit darin ist, dass es tatsächlich wichtig ist, unsere Gedanken wahrnehmen und lenken zu lernen. Aber den eigenen Abgründen und dunklen Phasen des Glaubens auszuweichen, führt an der Essenz vorbei. Viele Mystiker haben dafür ihre eigenen Worte gefunden. Die vielleicht schönsten fand Johannes vom Kreuz.

Der mittelalterliche Mystiker unterscheidet in seinen Schriften zunächst einmal „Melancholie“ (entspricht am ehesten depressiven Verstimmungen) von „Finsternis“ und „Dunkelheit“.  „Finsternis“ meint eine Gottesferne, für die ich in gewisser Weise selbst verantwortlich bin, weil ich mich selbst Gott entzogen habe: Vielleicht ist er mir in der Geschäftigkeit meines Alltags „durchgerutscht“ oder ich habe mich in mein Streben nach menschlicher Anerkennung verrannt. Vielleicht bin ich sogar auf der Flucht vor Gott, weil etwas in meinem Leben nicht stimmig ist und ich das Licht scheue. Bei dieser Finsternis braucht es das, was Johannes der Täufer „Buße“ nannte: eine Umkehr, eine Neuorientierung, ein Umdrehen – einen irgend wie gearteten Richtungswechsel.

Anders ist es bei der „Dunkelheit“. Sie wird empfunden als Abkehr Gottes, obwohl ich innerlich brennende Sehnsucht nach ihm habe. Sie kann sich in drei Weisen äußern:

  • als Wehmut und Einsamkeit, weil mir all das Schöne dieser Welt, das mir früher Freude gemacht und mich erfüllt hat, plötzlich nichts mehr bedeutet, nichts mehr gibt.
  • als Lethargie bis hin zum Gefühl größter Verlassenheit, weil Gott sich mir entzogen zu haben scheint. In Wirklichkeit ist mein Innerstes jedoch überfordert vom Erwachen Gottes in meiner Seele (deshalb kann diese Dunkelheit gerade nach sehr intensiven Phasen der Gottesbegegnung auftreten). Etwas Altes ist vergangen (der vergangene Tag ist nicht mehr), das Neue hat mich aber noch nicht durchdrungen (der neue Tag ist noch nicht in Sicht).

Beides beschreibt nach Günter Benker „den einen Prozess der Reifung und Entfaltung des Menschen zu sich selbst, der auch Gotteserfahrung einschließt“.

  • Die dritte Dunkelheit ist Folge der ersten beiden und meint einen Glaubensweg, der durch die anderen beiden Dunkelheiten „geläutert“ wurde und sich darin hineingefunden hat, dass Gott der nie vollkommen Erfahrbare, Erfassbare und Erkennbare bleibt. Diese Nacht ist kein zeitlich befristetes Erleben, sondern eine beständige Erfahrung, die sich durchsetzt. Gott zeigt sich dennoch – aber nicht auf eine Weise, durch die wir ihn besitzen könnten.

Alles loslassen statt kämpfen oder ertragen

Was kann ich selbst tun in solchen Zeiten der Dunkelheit? Natürlich kann ich versuchen, dagegen anzukämpfen (was aber sinnlos ist, weil es immer das Gegenteil bewirkt). Zweitens kann ich die Krise als Schicksal annehmen und passiv ertragen. Johannes vom Kreuz spricht als drittem Weg davon, mit Gott mitzuwirken, da diese Krise ein innerer Wachstumsprozess ist: „Ja“ sagen, die Dunkelheit annehmen und zulassen, sie nicht loswerden oder therapieren wollen. Alte Werte, Vorstellungen, Bilder von Gott ebenfalls loslassen, vielleicht sogar meine bisher gewohnte Art der Frömmigkeit, am Ende auch meine absichtlich gesuchten Gotteserfahrungen. Mich hineingeben in die Situation des „liebeswunden Wartenden“.

Manchmal gibt es Zeiten, in denen das tatsächlich das einzige ist, was mir hilft: Alles loszulassen, woran ich mich klammere. Sogar meine lieb gewonnenen Übungen und Gebetsformen. Sämtliche Literatur und „frommes Zeug“. Nur still dasitzen, einfach sein, warten – ohne etwas Bestimmtes zu erwarten, doch mit Hoffnung auf den neuen Tag und auf das Neue, das sich – in derDunkelheit noch unsichtbar – entwickelt.

Bild: Bessy from Pixabay

4 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Manfred Höfler
    16. April 2021 21:31

    Ich finde deinen Blogbeitrag großartig geschrieben, aber auch erschütternd und tröstlich zugleich. Mehr Worte dazu zu verlieren würde der Tiefe deiner Gedanken wohl nicht gerecht, lasse sie lieber unkommentiert auf mich wirken.

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  • Liebe Yvonne, dein Beitrag trifft mich gerade voll ins Mark. Ich befinde mich in genau dieser Situation und hab es nicht bemerkt. Danke für den Hoffnungsschimmer.

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