Dem eigenen Schatten begegnen

Der Kampf mit dem eigenen Schatten ist ein beliebtes Motiv in Cartoons. Darin versucht die Figur mit allen erdenklichen Mitteln, ihren Schatten loszuwerden. Je mehr sie es versucht, desto mehr Eigenleben entwickelt ihr Schatten. Kinder lachen sich beim Anschauen kringelig, weil sie längst begriffen haben, dass die Sache aussichtslos ist.

Nicht ganz so lustig ist, dass wir den Kampf mit unserem Schatten als Erwachsene ebenso aussichtslos aufnehmen. Nach C.G. Jung ist unser Schatten die Person, die wir auf keinen Fall sein wollen. Also das, was wir so verabscheuen, dass wir es nicht an uns haben wollen. Und so verbannen wir es in unser Unbewusstes, richten ein Schattendasein ein. Dort unten wabern dann alte Glaubenssätze, negative Gedankenschleifen, verdrängte Emotionen, verbotene Wünsche und Träume munter vor sich hin. Eine eigene Welt, mit der wir eigentlich nichts zu tun haben wollen. Was wir an uns nicht akzeptieren oder unterdrücken, soll dort „unten“ bleiben und uns in Ruhe lassen. Tut es aber nicht. Es drängt auf ganz eigene Weise an die Oberfläche und macht sich bemerkbar: durch körperliche Symptome, durch Träume, durch unsere emotionalen Reaktionen auf bestimmte Dinge, Situationen und Menschen. Vor seinem Schatten kann niemand davonlaufen.

Seinen Schatten ans Licht zu holen, ist jedoch gar nicht so einfach. Wir wollen ihm nämlich gar nicht begegnen – sonst hätten wir ihn ja nicht verbannt. Glauben lieber, dass wir uns doch eigentlich ganz gut kennen. Auch unsere Macken können wir aufzählen – doch unsere Macken sind nicht unser Schatten. Neben den bekannten Schrullen, mit denen wir möglicherweise Frieden geschlossen haben, gibt es Eigenschaften, die wir nicht mit uns in Verbindung bringen (wollen) – obwohl sie zu uns gehören. Es sind meist die Eigenschaften, die uns negativ an anderen auffallen. Vielleicht sind wir nach außen hin sogar zum Gegenteil geworden: aus Angst vor unserer Knauserigkeit machen wir umso großzügigere Geschenke, aus Angst vor unserem Egoismus helfen wir, wo wir nur können.

Wie kommen wir uns selbst auf die Spur?

Leider kostet es unfassbar viel Energie, seinem Schatten NICHT zu begegnen, sondern ihn wie einen Wasserball unter der Wasseroberfläche zu halten. Diese Energie fehlt uns für unser Leben – weshalb es keine wirkliche Alternative zu ernstgemeinter „Schattenarbeit“ gibt, wenn wir ernsthaft in unserem Leben vorankommen wollen. Doch wie fangen wir an?

Zunächst einmal, indem wir uns in einem ruhigen, entspannten Moment hinsetzen und über folgende Fragen reflektieren:

  • Was darf ein anderer Mensch auf keinen Fall über mich erfahren? Was möchte ich auf keinen Fall in einem Zeitungsartikel über mich lesen?
  • Was wäre für mich selbst am schlimmsten, über mich zu erfahren? Was macht mir angst?
  • Im Alltag beobachten: Welche Eigenschaften an anderen fallen mir negativ auf, welche Urteile fälle ich?

Am besten aufschreiben!
Erkenntnis ist längst nicht alles, aber der erste Schritt. Wenn wir in solch ein (Selbst-) Beobachten hineinkommen, fällt immer mehr Licht in unser Schattenreich.

In den Worten Jesu ausgedrückt: „Die Lampe des Körpers ist dein Auge. Wenn dein Auge klar ist, ist dein ganzer Körper hell. Ist es aber trübe, ist auch dein Körper voller Dunkelheit. Achte deshalb darauf, dass das Licht in dir nicht Dunkelheit ist. Wenn nun dein Körper ganz voller Licht und nichts an ihm finster ist: Dann wird alles voller Licht sein – als ob eine helle Lampe dich beleuchtet.«

3 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • […] Dem eigenen Schatten begegnen […]

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  • Beim Lesen ist mir bewusst geworden, wie gut das Bild des „Schattens“ gewählt ist. Der Versuch, vor ihm davonzulaufen, schlägt fehl. Will man ihn ergreifen, ergreift er einen… Die Auf- oder Erlösung des Schattens liegt jenseits von Verdrängung und Verbissenheit. Die Bezeichnung der inneren Haltung als „heilige Passivität“ eines christlichen Seelsorgers hat mir sehr gefallen.

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    • Yvonne Ortmann
      15. Oktober 2020 13:30

      Lieber Eduard, danke für die Ergänzung! Gerade dazu gelesen: „Hingabe bedeutet weder Schwäche noch Verlust. Sie ist ein mächtiges Nicht-Widerstand-Leisten.“ (Marianne Williamson) Im Christentum symbolisiert diese Haltung Maria, die von Gott geschwängert wird und sich diesem Prozess anvertraut.

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